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Interview: Rival Consoles

Seit Jahrzehnten ist elektronische Musik fest in der globalen Musik- und Clubkultur etabliert. Doch was sind die Bedingungen, unter denen sich elektronische Musik als künstlerisches Medium entfalten kann? Und welche Strategien verfolgen zeitgenössische Produzent:innen? Mit diesen und anderen Fragen befassen wir uns in einem Interview mit einem der weltweit renommiertesten Produzenten elektronischer Musik: Ryan Lee West alias Rival Consoles.

Culture Shifts: Hallo Ryan. Beginnen wir doch damit, deine Arbeit aus einem abstrakten Blickwinkel zu betrachten: Wie gehst du Musikproduktion an – und wo genau arbeitest du?

Rival Consoles: Zu dieser Frage gibt es viele Antworten, weil ich generell ein ziemlich obsessiver Produzent bin. Eigentlich produziere ich die ganze Zeit, und noch dazu eine Menge. Einiges davon funktioniert nicht und interessiert mich nicht weiter. Bei mir gibt es zwei Welten: eine Welt, die eher konzeptionell und spezifisch ist, und eine Welt, die sich improvisiert und chaotisch anfühlt, und aus der sich die Dinge entwickeln. In der ersten Welt könnte man zum Beispiel Tracks wie „Recovery“ und „Fragment“ oder auch „Sudden Awareness of Now“ verorten, deren Idee ich von Beginn an im Kopf hatte. Andere Kompositionen sind einfach aus dem Chaos heraus entstanden, wie „Memory Arc“. Grundsätzlich verstehe ich Produktion fast wie Forschung, also zwinge ich mich gar nicht erst dazu, etwas zu machen, das mir gefällt. Ich lasse die Musik entstehen und versuche dann, sie im Laufe des Prozesses zu verstehen.

CS: Bei Culture Shifts denken wir oft über die Bedeutung des Kuratierens nach – also das auszuwählen, was strategisch am sinnvollsten ist. Spielt Kuratieren auch in deiner Arbeit eine Rolle? Ich frage deshalb, weil du davon sprachst, dass du eine große Menge an Material produzierst.

RC: Auf jeden Fall. Für mich ist es wichtig, dass die Arbeit nicht erzwungen wirkt. Um das sicherzustellen, muss man einen Schritt zurücktreten und versuchen, das Material so zu betrachten, als ob man eine andere Person wäre. Und dann erst entscheiden, welche Dinge man für richtig hält. Das ist natürlich sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Ein weiterer wichtiger Teil ist für mich, meine Musik in verschiedenen Kontexten zu hören. Ich will den Wert meiner eigenen Arbeit niemals nur in einem einzigen Kontext oder Raum bewerten, weil ich das Gefühl habe, dass sie in verschiedenen Räumen exponiert werden muss, z. B. bei Auftritten oder wenn ich reise. Außerdem verspüre ich oft den Drang zu erfahren, wie vulnerabel – also durchlässig – meine Musik an verschiedenen Orten und in verschiedenen Kontexten werden kann, um dann zu verstehen, was an ihr stark ist und was weniger gut funktioniert.

CS: Kannst du mehr zum Thema der Verletzlichkeit sagen? Sie scheint in unserer Zeit eine besondere Rolle zu spielen, im Guten wie im Schlechten. Zugleich aber gerät sie in Vergessenheit.

RC: Verletzlichkeit ist auf jeden Fall ein großer Teil meiner Arbeit. Das liegt auch daran, dass ich nicht unbedingt Club Musik mache. Die Musik liegt eher zwischen den Welten. Und das macht sie angreifbar. Wenn ich in einem Club spiele, habe ich manchmal Absichten, die vom Publikum nicht erwartet werden. Ich habe einen Großteil meiner Karriere damit verbracht, mich als Künstler in gewissem Maße verwundbar zu fühlen. Das fließt auch in die Musik ein und macht sie, glaube ich, kraftvoll. Anstatt zu versuchen, einfach das zu tun, was die Leute von mir erwarten, zeige ich ihnen quasi einen anderen Weg. Einen sensibleren, möglicherweise interessanteren Weg.

Ich mache nicht unbedingt Musik für den Club. Die Musik liegt eher zwischen den Welten.

CS: Gibt es für diesen Weg eine bestimmte Strategie?

RC: Zunächst einmal gibt es eine Menge Dinge, die sich wiederholen. Auch gibt es vieles, das ich mir definitiv nicht erlaube. Das erweckt vielleicht den Anschein, dass ich eine Strategie habe, aber es sind eher die Dinge, die ich bewusst nicht tue, die ausschlaggebend sind. Es gibt z. B. viele bekannte musikalische Elemente in der elektronischen Populärkultur, die ich nicht einsetze. Das macht einen großen Unterschied in der Ästhetik aus. Wenn ich nur vier verschiedene Töne in einem Abschnitt spiele, ist das genau so durchdacht. Aber nichts ist zu kompliziert, alles ist ziemlich einfach. Das hört sich jetzt eher simpel an – aber es dauert sehr lange, bis man die optimalen musikalischen Beziehungen zwischen den Dingen definiert hat.

CS: In einem anderen Interview sprichst du über dein Album „Overflow“ und darüber, wie Byung-Chul Han’s Buch „Psychopolitics“ als Inspiration für das Album gedient hat. Übertragen sich Literatur oder Theorie auf deine Musik?

RC: Diese Lektüre wurde von dem verantwortlichen Choreographen vorgeschlagen, als wir an einem zeitgenössischen Tanz arbeiteten. Sie war ein wichtiger Teil der Recherche hinter der Produktion. In Bezug auf das Buch von Han denke ich oft über menschliches Bewusstsein und über emotionale Reaktionen auf die turbulenten und von Technologie bestimmten Zeiten nach, in denen wir leben. Das kann natürlich sehr tief gehen. Wir wollten reflektieren, was es bedeutet, gerade heute ein Mensch zu sein, und wie große unsichtbare Strukturen auf unser Dasein Einfluss nehmen.

CS: Definitiv fühlt sich unsere Gegenwart turbulent an – vor allem, wenn man an die jüngsten technologischen und auch politischen Entwicklungen denkt. Beeinflussen neuere Technologien wie künstliche Intelligenz deine Arbeit auf irgendeine Weise?

RC: Ich fange gerade an, diese Welt zu erforschen und finde sie sehr interessant. Andererseits gibt es bei allem, was relativ neu ist, eine Menge Dinge, die offensichtlich negativ sind. Das trifft sicherlich auf KI-Kunstwerke zu. KI inspiriert mich, schreckt mich aber auch ab – wenn heute etwas mit KI entwickelt wird, kann man morgen zwei Millionen Beispiele auf sozialen Medien wie Twitter (X) sehen. Ich glaube, das spielt eine Rolle bei der Frage, wie verführerisch Kreativität sein kann, weil ich davon ausgehe, dass Künstler Dinge tun wollen, die sich wertvoll anfühlen. Ich sage nicht, dass die ganze Entwicklung schlecht ist, aber es gibt immer auch Aspekte, die für die Kunst problematisch sind.

CS: In der aktuellen Ausgabe unseres Magazin erkunden wir die Ideen und Realitäten hinter den von Menschen geschaffenen und genutzten Spaces. In deiner Musik erschaffst du sehr komplexe räumliche Welten, nutzt unterschiedliche Texturen, Zugänge und Ästhetiken. Welche Erkenntnisse können wir als Hörer aus diesen Räumen gewinnen? Was können wir von Ihnen lernen?

RC: Ich interessiere mich für die inneren Welten verschiedener Menschen und was sie bedeuten. Das Stück „Untravel“ zum Beispiel schafft eine unmittelbare innere Welt oder das Gefühl einer inneren Welt. Ich möchte hier keine Vorgaben machen, mir geht es um subjektive Wirkungen. Aber ich interessiere mich auch sehr für menschliche Wahrnehmung im Allgemeinen und dafür, wie es ist, zu existieren und was uns verbindet. Ich erkunde auf diese Weise Räume, die in uns vorhanden sind, von denen wir aber vorher nicht wussten, dass es sie wirklich gibt. Mich interessiert elektronische Musik, die über den Menschen auf innovative Art und Weise reflektiert. Natürlich kann man menschliche Emotionen auch sehr gut mit orchestralen Instrumenten ausdrücken, aber es hat etwas sehr spannendes, genau das mit elektronischen Instrumenten zu tun. Generell gefällt mir der Gedanke, dass wir etwas wie Technik nutzen, das eher außerhalb von uns liegt, um wiederum etwas in uns auszudrücken. Das ist wie eine neue Sprache, ein neues Vokabular, von dem man über sich selbst lernen kann.

Künstler wollen Dinge tun, die sich wertvoll anfühlen.

CS: Wir würden gerne noch über Musik und Business sprechen. Wie siehst du die Beziehung zwischen der Welt der Unternehmen und der von elektronischer Musik? Passt das zusammen?

RC: Es gibt gute Beispiele dafür, wie Unternehmen Kunst einsetzen, um Produkte zu bewerben. Manchmal legen sie dabei auch genauso viel Wert auf Qualität wie die Menschen, die die Musik ursprünglich produziert haben. Es kann also durchaus Synergien geben. Aber es kommt auch vor, dass Unternehmen versuchen, sich authentische Gefühle zu erkaufen, um damit ihre Marke bloß oberflächlich zu stärken. Natürlich geht es in der Kommunikation viel um den äußeren Schein – wenig ist wirklich real. Aber der emotionale Effekt ist real. Und natürlich können Unternehmen überaus kreativ sein und diesen Effekt zu ihrem Vorteil nutzen.

CS: Gibt es Unternehmen, mit denen Du gerne einmal zusammenarbeiten würdest?

RC: Da habe ich keine bestimmte Einstellung. Es sind aber bereits eher negative Dinge passiert. Zum Beispiel gab es vor Kurzem eine Inszenierung der Marke Coperni, bei der ein Kleid auf den Körper von Bella Hadid gesprüht wurde. Dazu wurde mein Track „Untravel“ ohne Erlaubnis gespielt. Im Anschluss wurde viel darüber geredet, hunderte von Millionen Menschen haben den Clip gesehen, und dann war er wieder weg. Ich hatte das Gefühl, dass sie meine Musik auf eine eher generische Art und Weise behandelt und nicht über den Künstler und die Bedeutung des Stücks nachgedacht haben. Es kann also in viele Richtungen gehen. 

CS: Kommen wir zu unserer letzten Frage: Gibt es bestimmte künstlerische Ziele, die Du aktuell verfolgst?

RC: Das höchste Ziel, das ich schon oft zu erreichen versucht habe, aber an dem ich immer wieder gescheitert bin, ist, aufrichtig zu sein. Das ist einfach sehr schwierig und gilt insbesondere für Künstler:innen. Die Werke, die ich für die kraftvollsten halte, sind dann entstanden, wenn ich mir selbst gegenüber aufrichtig war und mir erlaubt habe, verwundbar zu sein.

Das höchste Ziel, das ich schon oft zu erreichen versucht habe, aber an dem ich immer wieder gescheitert bin, ist, aufrichtig zu sein.

Wie bereits berichtet arbeite ich ziemlich obsessiv, so dass meine Ideen anschließend im Laufe der Zeit bearbeiten und verstehen muss, um dann überlegter zu werden und weniger aus dem Bauch heraus zu handeln. Ich versuche, mir keine zu spezifischen Ziele zu setzen, weil das Kreativität oft verhindert. Ich will aber offen sein und sensibel für die Dinge und die Kunst bleiben. Das klingt jetzt eher lächerlich, aber es ist sehr einfach, nicht sensibel zu sein. Es gehört viel Sensibilität und Disziplin dafür, etwas zu erschaffen. Und ebenso braucht es Disziplin dafür, etwas zu verstehen.