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Interview: Sarah Cosulich, Direktorin Pinacoteca Agnelli

Erst letztes Jahr, 2022, wurde die Pinacoteca Agnelli im Turiner Lingotto als dynamisches Kulturzentrum wiedereröffnet. Direktorin und Kuratorin Sarah Cosulich verantwortet die neue Vision und Strategie des Museums. Wie geht sie mit zeitgenössischen Trends um? Wie sieht ihre Strategie in Bezug auf Kommunikation und Teambildung aus? Und wie gelingt es ihr, die neue Ausrichtung und die Projekte des Museums einem vielfältigen Publikum auf lokaler und internationaler Ebene zu vermitteln? Wir sprachen mit Sarah Cosulich darüber.

Moritz Gaudlitz: Hallo Sarah, heute möchte ich mit Ihnen über Ihre Arbeit, Ihre Strategie und die Entwicklung der Pinacoteca Agnelli im Turiner Lingotto sprechen – eines der außergewöhnlichsten Gebäude der Welt und laut dem Architekten Le Corbusier „eine der beeindruckendsten Sehenswürdigkeiten der Industrie“.

Sarah Cosulich: Sicher, sehr gerne. Vielen Dank für diese Gelegenheit. Ich werde Ihnen ein wenig darüber erzählen, was die Pinacoteca vorher war und was wir alles gemacht haben. Die Entwicklung der Pinacoteca Agnelli stellte uns vor besondere Herausforderungen, vor allem im Umgang mit einer bestehenden Identität und einem bestehenden Publikum. Die Neugestaltung eines Raums, der schon lange bekannt ist, ist in vielerlei Hinsicht eine größere Challenge als der Aufbau einer neuen Einrichtung. Im Jahr 2022 wurde ich von der Präsidentin Ginevra Elkann eingeladen, die Identität einer Institution neu zu gestalten, die um die bemerkenswerte Sammlung ihrer Gründer Giovanni und Marella Agnelli herum aufgebaut wurde. Diese Sammlung, deren Arbeiten sich über die Jahre 700, 800 und 900 erstreckt, ist nicht nur eine Zusammenstellung bedeutender Werke, sondern eine Fundgrube für wahre Meisterwerke. Meine Aufgabe bestand darin, den Geist der berühmten Sammlung zu bewahren und ihr gleichzeitig eine neue Bedeutung zu verleihen. Die Pista 500 war natürlich schon da, jedoch noch nicht für die Öffentlichkeit zugänglich.

MG: Die Pista 500 auf dem Dach, auf der damals frisch produzierte Fiat-Autos getestet wurden, hat sich durch Gartengestaltung und künstlerische Installationen in einen Ausstellungsweg im Freien verwandelt. Können Sie uns einen Einblick in die strategischen Überlegungen hinter dieser Initiative geben?

SC: Als ich 2022 hier ankam, wurde die Pista gerade erst in einen Garten umgewandelt. Ich erkannte das einzigartige Potenzial der Pista und sah die Chance für eine Umgestaltung unter Beibehaltung des Kerns der Sammlung. Trotz ihrer Größe bot die Pista sowohl zusätzlichen Raum als auch ein besonderes Kunsterlebnis. Inspiriert von der New Yorker High Line ist unsere Pista nicht nur ein Stadtrundgang, sondern eine symbolische Tour, ein Wahrzeichen der Architektur. Ursprünglich war der brutalistische Raum eine Herausforderung für die Ausstellung von Kunst, bis der Garten ihn in einen einladenden und ansprechenden Ort verwandelte. Als ich ein Projekt vorschlug, stellte ich mir die Sammlung und die Pista als Einheit vor. Das Ziel war es, die Besonderheit des Gebäudes ebenso zu zeigen wie die Sammlung selbst. Durch ortsspezifische Installationen könnten die Künstler eine stärkere Verbindung herstellen, indem sie die Geschichte des Raums, der Arbeit, der Produktion und der einzigartigen Landschaft Turins aufgreifen. So wurde die Pinacoteca Agnelli mit dem Erbe von Lingotto verbunden und ein Storytelling geschaffen, das Kunst, Geschichte und die Besonderheit von Turin miteinander verbindet.

MG: Wie können Sie diese Geschichten mit den verschiedenen Projekten der Pinacoteca Agnelli verbinden?

SC: Wir haben drei Projektlinien: die Sammlung, die nicht nur durch Ankäufe, sondern auch durch Engagements ständig erweitert wird, die dritte Etage als Brücke zu bahnbrechenden zeitgenössischen Persönlichkeiten und die Pista 500 als Raum fürs Hinterfragen, Risikobereitschaft und Zusammenarbeit mit Künstlern. Bei der Entwicklung der neuen Identität der Pinacoteca erkannten wir überwiegend männliche Geschichten – Fabrik, Autos, eine von Männern geprägte Welt und eine Sammlung, die hauptsächlich männliche Künstler umfasst. Das war ein Thema, was aber nicht bedeutet, dass wir nur Künstlerinnen einladen, wir haben jedoch mit Sylvie Fleury, Lee Lozano und den Werken auf La Pista, wie Louise Lawlers Vögeln, ein deutliches Zeichen gesetzt – ein Schritt zur Neugestaltung unserer Geschichte.

MG: Apropos Umgestaltung: Wenn ich es richtig verstanden habe, haben Sie nur Frauen in Ihrem Team, was ich für eine ziemlich gute Strategie halte, um der Geschichte entgegenzuwirken und ein Zeichen zu setzen.

SC: Sicher, aber es ist nicht beabsichtigt, nur Frauen im Team zu haben. Das ist passiert, weil wir bei den Vorstellungsgesprächen sehr neutral waren und uns für die besten Kandidatinnen für den Job entschieden haben. Wir sind stolz darauf, arbeiten aber weiterhin mit Männern zusammen, weil wir viele externe Mitarbeiter haben, darunter Fiat-Ingenieure und Unternehmen, die Kunstwerke produzieren. Wir schätzen die Möglichkeit, mit Menschen aller Geschlechter zusammenzuarbeiten und einen ausgewogenen Ansatz zu verfolgen. Das ist Teil unserer Identität.

MG: Wie managen Sie heute ein Team und wie kommunizieren Sie intern und extern?

SC: Das Team hier ist fantastisch. Ich habe die Einrichtung in drei Abteilungen gegliedert, die jeweils von Personen geleitet werden, die von Anfang an aktiv beteiligt waren. Das gesamte Team, einschließlich der Abteilungsleiter, spielt eine grundlegende Rolle, und jede Ressource ist angesichts unserer Größe im Vergleich zur Arbeitsbelastung wertvoll. Ich schätze Eigeninitiative, und die Teammitglieder untersuchen zum Beispiel, wie Veranstaltungen neue Zielgruppen ansprechen und als Finanzierungsquelle dienen können. Bildung wird nicht nur als Dienstleistung, sondern als wertvolle Ressource gesehen, und das Kurator:innenteam sucht nach Verbindungen zu anderen Institutionen. Die Vielfalt innerhalb des Teams ist entscheidend. Es gibt sogar eine Frau als Produktionsleiterin, die nur mit männlichen Ingenieuren und Fiat-Leuten zu tun hat. Es ist wichtig, über den Tellerrand hinauszuschauen, denn zunächst einmal ist dieser Ort wirklich eigenartig, so dass man wirklich kreativ sein und neue Lösungen finden muss. Wir halten uns nicht an traditionelle Wege, sondern konzentrieren uns darauf, Ziele zu erreichen und neue Ansätze zu finden. Das ist eine anders  als die vermeintliche Stabilität und der Intellektualismus, die man normalerweise mit Kunstinstitutionen verbindet.

Es ist wichtig, über den Tellerrand hinauszuschauen.

MG: Wie würden Sie das Lingotto beschreiben? Es ist ein großartiger, besonderer und gleichzeitig seltsamer Ort – wie eine Stadt in einer Stadt. Ein Ort, an dem Kultur, Hotellerie, Dienstleistungen, Gastronomie und Unterhaltung nebeneinander bestehen. Profitieren all diese verschiedenen Bereiche voneinander, ist es organisch oder ist es manchmal seltsam in der Konstellation?

SC: Das ist eine interessante Frage! Wir versuchen, es organisch zu gestalten. Inmitten eines Einkaufszentrums zu sein war für uns anfangs eine Herausforderung. Der Kontrast zwischen einem Raum für zeitgenössische Kunst und einem Einkaufszentrum stellte für uns einen Imagekampf dar, unser Image der Kultiviertheit und des kulturellen Images zu fördern. Mit der Zeit haben wir gelernt, mit diesem Kontext organischer zu arbeiten. Während wir uns abgrenzen, erkennen wir das Potenzial, unser Programm für ein neues Publikum zu öffnen. Mit unserer Kommunikationsabteilung haben wir Initiativen ergriffen, bei denen wir uns den Besucher:innen des Einkaufszentrums öffnen. Wir haben Veranstaltungen oder Bildungsinitiativen für die Kinder der Mitarbeiter:innen des Einkaufszentrums organisiert. Heute können Besucher:innen des Einkaufszentrums die Pista 500 für nur zwei Euro besuchen. Wir sind weniger exklusiv, weniger versnobt und inklusiver geworden und haben unsere Reichweite über das traditionelle Kunstpublikum hinaus erweitert. Es ist faszinierend zu beobachten, wie sich die Meinungen ändern und Menschen, die zunächst von den Pista-Installationen angezogen wurden, sich dann dafür entscheiden, die Ausstellungen auf unseren anderen Etagen zu besuchen. Bei diesen Installationen geht es nicht nur darum, Denkmäler neu zu interpretieren, sondern sie sind auch ein Schlüssel zu einem neuen Publikum für die Kunst.

MG: Es ist Ihnen gelungen, ein neues Publikum für das Museum zu gewinnen. Welche Strategien verfolgen Sie, damit eine Kultureinrichtung ein Ort bleibt, der offen ist für die Reflexion des zeitgenössischen Diskurses und der die Beteiligung unterschiedlicher Zielgruppen fördert?

SC: Unsere Sylvie-Fleury-Neonarbeit, die „Yes To All“ verkündet, ist unsere Botschaft, zeitgenössische Kunst für alle zugänglich zu machen, auch für diejenigen, die damit nicht vertraut sind. Der Schwerpunkt liegt auf der Möglichkeit, etwas Neues zu entdecken, zu lernen und vielleicht sogar zu schätzen. Das Erbe von Fiat und die Geschichte des Lingotto, die wir vertiefen wollen, werden zu faszinierenden Einstiegspunkten für die Besucher. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wertet die Gegenwart auf, und die Kenntnis der Geschichte des Werks weckt die Neugierde. Inklusion bedeutet für uns, verschiedene Interessen zu vereinen. Die Menschen kommen aus unterschiedlichen Gründen – manche wegen der Kunst, andere wegen der von Renzo Piano umgestalteten Architektur des Gebäudes oder einfach, um einen Spaziergang mit Blick auf die Berge oder die Turiner Landschaft zu genießen. Eine Sache, die ich neben dem Programm von Anfang an unbedingt wollte, ist die Einrichtung einer Bar. Es mag wie ein Detail erscheinen, aber es verwandelt das Museumserlebnis in einen längeren, zielgerichteten Besuch. Die Bar wird zu einem Raum für verschiedene Aktivitäten – Mittagessen, Lernen oder Surfen im Internet. Diese Ergänzung hat dazu beigetragen, unsere Besucherzahlen zu verdreifachen und die Pinacoteca zu einem lebendigen und funktionalen Ort auf dem Stadtplan zu machen.

MG: Ist im Lingotto, in der Pinacoteca Agnelli, der Raum mächtiger als der Inhalt oder kann  Inhalt den Raum übertreffen?

SC: Nein, der Inhalt muss den Raum übertreffen! Die Mischung ist zwar ideal, aber der Raum wird durch den Inhalt aktiviert. Wir betrachten den neutralen Raum als einen Container, der aktiviert werden muss, und Inhalte sind  für diese Erzählung von grundlegender Bedeutung. Unser Ziel ist es, Ausstellungen mit Künstler:innen zu präsentieren, die für unsere Gegenwart relevant und für unsere Geschichte von Bedeutung sind. Wir erkennen Künstler:innen im richtigen Moment, und ihre Sichtbarkeit entwickelt sich oft fantastisch, nachdem sie bei uns ausgestellt wurden.

MG: Neben Ihrer Tätigkeit als Direktorin der Pinacoteca Agnelli kuratieren Sie international Ausstellungen und arbeiten mit Unternehmen zusammen. Wie unterscheidet sich hier Ihre Strategie?

SC: Ich mag das Wort Strategie. Viele meiner öffentlichen oder institutionellen Engagements sind das Ergebnis gewonnener Wettbewerbe. Ob ich nun die Pinacoteca Agnelli leite oder mit der Designfirma Mutina zusammenarbeite, die Strategie besteht in der Gestaltung von Ausstellungsprogrammen, die mit der Identität und der Funktion des jeweiligen Raums übereinstimmen. Um zeitgenössische Kunst in ein Tool für Kreativität zu verwandeln, müssen bei Mutina nicht nur Ausstellungen, sondern auch ein Raum und ein Programm geschaffen werden. Diese flexible Strategie umfasst Künstlerpreise, Kooperationen mit internationalen Institutionen und Ausstellungen in Mailand und Modena. Ziel ist es, Kunden und Mitarbeitern die Kunst näher zu bringen und die Kreativität innerhalb des Unternehmens zu fördern. Außerdem bin ich für ein Künstlerarchiv verantwortlich in dem das Werk von Lydia Silvestri von den 1960er Jahren bis 2018 verwaltet wird. Wie machen Sie es der Öffentlichkeit zugänglich und international bekannt? Ich denke, ich wende immer dieselbe Logik der Strategie an, um den endgültigen Zweck mit Ansätzen zu erreichen, die notwendigerweise verschiedene Publikumsgruppen einschließen.

MG: Immer mehr Unternehmen fangen an, von Kultureinrichtungen zu lernen oder versuchen, die Kultur in ihre Entscheidungsfindung und Strategiebildung zu integrieren. Sind Sie der Meinung, dass Kultureinrichtungen wie etwa Museen mehr unternehmerisch handeln müssen?

SC: Ja, diesen Ansatz haben sie schon immer gebraucht. Für die Direktor:innen ist es zwar von grundlegender Bedeutung, Kunsthistoriker:in zu sein, aber ebenso wichtig ist es, die Herausforderungen und Entwicklungen in der Kunstwelt zu verstehen. Sie müssen die Bedürfnisse sowohl der Künstler:innen als auch des Publikums erfassen und dabei nicht nur künstlerische Aspekte, sondern auch die Finanzierungsanforderungen berücksichtigen. Unternehmerische Fähigkeiten sind notwendig, aber nicht in dem trockenen Sinne, dass man nur auf Zahlen schaut, sondern mit einer Vision, die alle Steakholder berücksichtigt.

MG: Ich danke Ihnen vielmals. Vielleicht noch eine letzte Frage, um das Ganze zusammenzufassen. Wie viele Kilometer laufen Sie normalerweise täglich auf der Pista 500? 

SC: Eine Menge. Das ist unser Workout, wissen Sie. Wir brauchen keine zusätzlichen Trainings mehr. Ich sage gerne, dass wir ein Museum sind, das in Kilometern gemessen werden kann.