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Human Brains. Interview mit Udo Kittelmann

Die Beziehungen zwischen Neurowissenschaft und Kulturgeschichte erforscht ein Ausstellungsprojekt in der Fondazione Prada in Venedig. „Human Brains: It Begins with an Idea.“ überschreitet dabei nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch die Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst. Ein Gespräch mit dem Kurator Udo Kittelmann.

Kaum ein menschliches Organ lässt so viele wissenschaftliche Fragen offen wie das Gehirn. Neurolog:innen weltweit versuchen herauszufinden, wie es funktioniert und wie es unser Handeln und Denken beeinflusst. Die aktuellen Forschungen sind dabei nur die neuesten Gestaltungen eines Projekts, das so alt ist wie die Menschheit, und sich je nach den jeweils vorherrschenden wissenschaftlichen und ideologischen Paradigmen verschieden gestaltet.

Den Versuch, einen Überblick über dieses Projekt zu liefern, unternimmt derzeit die Fondazione Prada in Venedig zum Anlass der dort stattfindenden Kunstbiennale mit der Ausstellung „Human Brains: It Begins with an Idea“ im Palazzo Ca‘ Corner della Regina. Die Ausstellung wurde von Udo Kittelmann in Zusammenarbeit mit der Künstlerin Taryn Simon kuratiert, begleitet von einem internationalen Beirat aus Experten auf dem Gebiet der Neurowissenschaften. Die Kernfrage der Ausstellung, die sich über drei Etagen des Palazzo erstreckt, lautet: Welche Bedeutung hat das menschliche Gehirn, in all seiner funktionalen Komplexität, für die menschliche Geschichte?

In der Ausstellung werden nicht nur medizinische Informationen über das Gehirn präsentiert, sondern auch über 110 Objekte gezeigt, die einige der wichtigsten Etappen einer jahrtausendelangen Entdeckungsreise markieren. Ferner hat man 32 Autoren aus aller Welt eingeladen, die, inspiriert durch aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse über die menschliche Neurologie, fiktionale Stories geschrieben haben. Ein weiteres Highlight der Ausstellung ist Taryn Simons „Conversation Machine“, in der sechsunddreißig Neurowissenschaftler:innen, Psycholog:innen, Neurolinguist:innen und Philosoph:innen auf zweiunddreißig Bildschirmen neurowissenschaftliche Experimente und deren philosophische Implikationen in einem sich zufällig ergebenden, aber kuratierten Dialog interpretieren.

Die ganze Ausstellung zeigt par excellence den Geist des neuen Kulturwandels – Culture Shifts Magazine freut sich, den Kurator Udo Kittelmann in Venedig zu einem Gespräch über die Ausstellung getroffen zu haben.

 

Culture Shifts: Herr Kittelmann, zu Beginn eine Frage zum Titel der Ausstellung „Human Brains: It Begins with an Idea.” Was ist diese Idee und wie ist die Idee zu dieser Ausstellung entstanden? 

Udo Kittelmann: Die Idee ist sicherlich zunächst einmal, dass jeder Gedanke eine Form bekommen muss. Jeder Gedanke verbleibt zunächst in einem abstrakten Raum, bevor er verbal geäußert werden kann. Dabei bedarf es aber immer auch der Vorstellung, der Idee. Das Interessante ist ja, wenn man sich die menschheitsgeschichtliche Dimension der Erforschung des Gehirns ansieht: Die Ägypter hatten noch überhaupt keine Vorstellung vom Gehirn in unserem Sinne, aber sie hatten eine Vorstellung davon, dass uns tatsächlich irgendetwas Höheres leitet und haben das im Herzen angesiedelt. Auf der anderen Seite gibt es in der Ausstellung diese wunderbare Darstellung von Rembrandt, in der die Schädeldecke geöffnet wird, um die Zirbeldrüse rauszunehmen, weil man zu Rembrandts Zeit glaubte, dort sei die Seele …  Doch zunächst haben wir ja diese zwei Sumerischen Tonrollen, die nachweislich eine der ersten menschheitsgeschichtlichen Einschreibungen der Idee des Traumes sind. Solche Gedanken haben das menschliche Nachdenken über das Gehirn fundamental beeinflusst.

CS:Die Ausstellung startet mit diesen ersten Artikulationen einer Begrifflichkeit von Traum. Überhaupt legt sie einen starken Akzent auf Interaktion und Kommunikation. Sie betont dabei, wie sehr das, was wir erleben oder einander mitteilen, jeweils eine Reaktion auf etwas ist, was ihm voraus geht. Wie stellen Sie das in der Ausstellung dar?

UK: Die wichtigste Frage, die wir uns gestellt haben, war: Wie transformiert man unser Wissen in eine hoffentlich nicht didaktische Ausstellung? Es gibt Bücher, die zeigen das wunderbar auf, was im 20. Jahrhundert passiert ist, aber so etwas bliebe rein illustrativ. Das würde nicht deutlich machen, welche Schwierigkeiten darin liegen. Dagegen erfährt man in Gesprächen mit den beteiligten Neurowissenschaftler:innen sehr schnell, dass wir immer noch relativ wenig über das Gehirn, über Bewusstseinsbildung, über Erinnerung wissen – und überhaupt über seine Funktionsweise. Das war eine lange Reise der Recherche, Objekte ausfindig zu machen, mit denen man das darstellen kann – und mit Fakten zu unterlegen. Und wenn man sich die Zeit nimmt, den 36 Wissenschaftler:innen in der Conversation Machine über eine Stunde zuzuhören, die ja nur kurze Ideen äußern, die durch einen weiteren Wissenschaftler wieder weitergedacht werden, dann erfährt man sehr viel. Die Idee war auch immer, die Forscher:innen zu den Stars dieses Projektes zu machen, sie aus dem Kokon, in dem auch sie gefangen sind, herauszunehmen und in einem neuen Kontext zu präsentieren.

CS: Wissenschaftler:innen – also Leute die sich mit der Welt auseinandersetzen und Lösungen aufzuzeigen versuchen – zu Stars machen. Wie nehmen die das wahr? Sind sie froh darüber, dass man ihnen so eine Bühne in diesem Kontext gibt?

UK: Ja, wie jeder Mensch mit einem gesunden Egoismus. Aber natürlich sind sie auch dankbar. Wir können das an Fernsehprogrammen, an Filmdokumentationen in den letzten Jahrzehnten beobachten, dass immer mehr Wissenschaftler ihre Stimme erheben. Und das stößt auch auf ein ungeheures Interesse. Gut wäre es, und das ist auch sicherlich ein Ziel dieser Ausstellung, diese Dinge auch mit anderen Feldern des Wissens zusammenzubringen. Das braucht einen Pragmatismus auf der einen Seite, es braucht aber auch die Form einer pragmatischen Weise des Verstehens, wie Menschen fühlen und denken. Und da gehören dann natürlich verschiedene Wissenschaften zusammen.

"Die Idee war auch immer, die Forscher:innen zu den Stars dieses Projektes zu machen."

CS: Das war ja für Sie neu, dass Sie in diesem Fall nicht nur mit Künstler:innen oder Kreativen im herkömmlichen Sinne zusammengearbeitet haben, sondern auch mit einer anderen Art von Akteur:innen.

UK: Wenn wir immer im gleichen Kreis dessen kreisen, was uns beruflich vor allen Dingen ausmacht und nicht teilen mit anderen Menschen anderer Art, dann verbleibt es in einem sehr engen Raum. Ich glaube, das tut jeder Wissenschaft, das tut jedem in jeder Geisteswissenschaft, das tut jedem Denken gut, sich da auszutauschen. Es war von Anfang an immer klar: So eine Art von Ausstellung in dieser Form hat es noch nicht gegeben. Sie ist auch dezidiert nicht als Kunstausstellung ausgewiesen. Trotz der Positionierung auf einer Kunstbiennale. Es gibt Ausstellungen in der jüngeren Vergangenheit, die die Kunst im traditionellen Sinne als Illustration einbezogen haben. Doch da haben wir uns früh dagegen ausgesprochen. Es gibt auf der anderen Seite Ausstellungen über das Hirn, die sehr technisch aufgebaut sind, aber eben nicht in dieser Form. Das war white land, unbekanntes Land, und deswegen brauchte das auch unendliche Treffen, und unendliche Gespräche, fast ausschließlich über Zoom.

CS: Ihre Ausstellung hat die Geschichte des menschlichen Gehirns als eine Kulturgeschichte dargestellt.

UK: Eine große Herausforderung bestand natürlich darin, dass gerade die Neurowissenschaften ein vorrangig europäisches und amerikanisches Feld sind. Und selbst Wissenschaftler:innen aus dem asiatischen oder aus dem afrikanischen Raum haben ihre Ausbildung oft an US-Universitäten und Hospitälern genossen und sind dorthin dann eben auch weiterhin berufen worden. Für uns war es spannend, dass wir das möglichst divers machen, die Recherchen haben uns auch nach Südamerika und Asien geführt, um diese Materialien zusammenzubringen. Auf der anderen Seite gab es dann diese sehr schöne Idee, 32 Autor:innen weltweit einzuladen – von Salman Rushdie über Esther Freud und Daniel Kehlmann bis zu Katie Kitamura – die anhand von wissenschaftlichen Erkenntnissen Erzählungen und Stories schreiben, um kulturellen Mehrwert zu generieren.

CS: Die Zeiten haben sich geändert. Die Welt ist in einem miserablen Zustand. Und die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen innerhalb dieses Zustands ist sehr gering. Was war die Motivation, eine Ausstellung zu machen, die sich mit dem Hirn tatsächlich ernsthaft auseinandersetzt und das Hirn der Rezipient:innen so fordert, dass sie hier nicht in ein paar Minuten durchgehen können – sondern sich vielleicht sogar anstrengen müssen.

UK: Als wir anfingen, gab es weder die Pandemie, noch gab es diese ganze kriegerische Umbruchssituation in der Ukraine. Ich muss es so offen sagen: Würde man es heute noch mal genauso machen oder müsste man sich einem anderen Thema zuwenden? Aber es ist das Hirn, das all das veranstaltet. Das Hirn, das Denken, die Erinnerung, das Bewusstsein macht ja erst die Welt, in der wir leben, so, wie sie ist. Sonst würde sie vielleicht auch anders aussehen. Und wenn man dann diese drei Etagen durchgeht, an 110 Objekten vorbei, in diesem dunklen Labyrinth … die Vitrinen sieht, die Objekte, den Geschichten lauscht, dann ganz oben die sogenannte Conversation Machine von Taryn Simon erfährt, in der insgesamt 36 Wissenschaftler:innen über zwei Stunden in einer Debatte sind, einem Austausch ihrer Ideen, dann wird sehr deutlich: Denken ist anstrengend. Denken ist unglaublich komplex. Dabei versucht die Welt, in der wir leben, gerade ja genau das Gegenteil: Die Komplexität auf einfache Elemente herunterzubrechen. Aber das ist sicherlich nicht, wie das Hirn funktioniert. Es ist viel komplexer, als das irgendeine einfache Struktur je darstellen kann. 

CS: Wartet da ein neues Paradigma auf uns – das vielleicht stark von einer neuen Art Technologie bestimmt sein wird? Wie werden wir wohl in ein paar Jahrzehnten denken?

UK: Wenn die Frage danach gestellt würde, wie verändert sich das menschliche Hirn auf eine denkbare Zukunft hin, kann ich darauf nur sagen: Zum einen dauert es sehr, sehr lange. Das ist nicht so schnell verwandelbar. Das kann auch Generationen dauern. In verschiedenen Kulturkreisen werden sicherlich auch unterschiedliche Entwicklungen stattfinden, aufgrund von anderen Sozialisierungen und Erfahrungen. Zum anderen glaube ich schon, dass sich das Hirn und sein Denkprozess in einer vielleicht gar nicht allzu fernen Zukunft kreativer gestalten lässt, wenn man denn mehr über es und über seine Funktionen weiß. Wie das geht? Ich bin immer noch Laie, auch nach zwei Jahren. Ich weiß nicht, wie sich das verändern wird. Ich kann nur immer wieder sagen: hoffentlich zum Besseren. Wir werden sehen … 

"Man kann das Hirn nicht fühlen."

CS: Herr Kittelmann, wie sieht es nach dieser Ausstellung eigentlich mit Ihrem eigenen Hirn aus. Betrachten Sie es jetzt mit anderen Augen?

UK: Eines der vielleicht wichtigeren Dinge, die ich gerade auch in der Schlussphase des Projektes erfahren habe und was mir zuvor nie bewusst war, ist: man kann das Hirn nicht fühlen. (Wenn wir über Kopfschmerzen reden, hat das ja überhaupt nichts mit unserer Hirnmasse zu tun, mit dem Organ Hirn.) Wir können tatsächlich alle Organe fühlen. Aber nichts von dem, was das Hirn macht: unsere Motorik nicht, unsere Sprachlichkeit nicht. Nichts können wir fühlen. Es ist, wenn man so will, ein gefühlloses Ding. Und trotzdem ist es das, durch das wir uns die Welt zurechtbauen.

 

Die Ausstellung ist noch bis zum 27. November 2022 in der Fondazione Prada Venedig zu sehen.